Deutschland. 1.000 Gesichter

Im Gespräch mit: Carsten Sander

Im Gespräch mit: Carsten Sander

Über 100 Quadratmeter groß ist das Kunstwerk „HEIMAT.Deutschland – Deine Gesichter“, das den Hauptraum des St. Kamillus Kolumbariums ziert. Das Werk von Carsten Sander zeigt 1.000 Porträts. Jedes 25 × 35 Zentimeter groß. 40 Fotos je Reihe. 25 Reihen hoch. Sind es einfach 1.000 Menschen oder steckt mehr dahinter? Im Rahmen unseres Blogs „Kamillus informiert“ sprachen wir mit Carsten Sander über die Intention hinter dem Werk und erfuhren viel über die Porträtierten wie auch die Menschen im Allgemeinen.

— Herr Sander, wie entstand die Idee zu Ihrem Kunstwerk „HEIMAT.Deutschland – Deine Gesichter“?

Carsten Sander: Ich bin im Jahr 2008 nach Berlin gezogen und war begeistert. Die Stadt war durchmischt von Menschen aller Couleur, Herkunft, Alter, Status und damit so einzigartig. Da entstand der Plan, Deutschland zu zeigen in seiner ebenso durchmischten Einzigartigkeit – in Form von Gesichtern. Dafür wollte ich das neutralste Porträt der Welt kreieren.

— Wieso das neutralste Porträt der Welt?

Sander: Die Menschen sollten möglichst „meditativ“ aussehen. Ich wollte den Charakter im Bild einfangen. Dafür wählte ich als erstes einen neutralen Foto-Hintergrund. Eine Leinwand, die auf einen Keilrahmen gespannt ist. Auf das gleiche Material sind die Bilder übrigens im St. Kamillus Kolumbarium montiert. Dann ein Licht, das die feinen Züge des Gesichts sichtbar macht. Der Blick der Porträtierten sollte absolut gerade sein. Schließlich die Position des Menschen: Zentral. Kopf gerade. Keine Neigung nach unten, oben oder zur Seite. Und keine Emotionen im Gesicht. Neutral. So ist der Look entstanden.

— Wie haben Sie es geschafft, dass die Porträtierten kaum einen Gesichtsmuskel verziehen?

Sander: Damit das Porträt perfekt wurde, mussten sowohl die Person als auch ich absolut in unserer Mitte sein. Ich habe wie jeder Fotograf einen Profimodus. Wenn ich den „einschalte“, spielen meine eigenen Emotionen und Gedanken keine Rolle mehr, ich ruhe in meiner Mitte und kann dem Menschen vor der Kamera entspannt gegenübertreten. Dann habe ich die zu porträtierende Person gebeten, gedankenlos ins Objektiv zu schauen.

— Und das hat bei jeder Person geklappt?

Sander: Die meisten waren erst einmal verunsichert. Einige fingen an zu reden, andere konnten den Blick nicht halten. Ich habe ihnen immer Zeit gegeben, wusste, was ich sagen musste, damit sie zu ihrer Mitte finden. Um ihre ureigene Persönlichkeit im Gesicht zu zeigen, durften sie nicht reden. Also redete ich schnell und viel. Die Lauten habe ich leise gemacht, die Leisen laut. Alle kamen schließlich in ihrer Mitte an. Der Prozess hatte einen fast meditativen Effekt.

— Blieben die Menschen dabei Fremde für Sie?

Sander: Ich habe sehr viel über die Menschen vor meiner Kamera erfahren und kann sehr vieles davon in den porträtierten Gesichtern sehen. Da ist die Kamera entlarvend. Nach so vielen Porträts kann ich heute schon an kleinen Gesichtszügen eine Menge erkennen. Mit diesem Wissen könnte ich heute vielleicht auch als Personaler arbeiten.

Apropos: Wie haben Sie die Porträtierten eigentlich rekrutiert?

Sander: Am Anfang musste ich nach ihnen suchen. Ich habe irgendwelche Menschen in Berlin angesprochen und darauf geachtet, dass die Auswahl gut durchmischt war. Zu Beginn haben mir viele einen Vogel gezeigt. Aber nachdem ich erst einmal ein paar Hundert fotografiert hatte, sprach es sich rum. Schließlich habe ich irgendwo angerufen, avisiert, dass ich komme und jeden fotografiert, der sich dort abbilden lassen wollte. Für das Werk im St. Kamillus Kolumbarium habe ich nach fünf Jahren des Fotografierens am Ende 1.000 perfekte ausgewählt. Darunter übrigens auch der Sohn und der Enkelsohn von Dominikus Böhm, dem Architekten des St. Kamillus Kolumbariums. So entstand die Mischung mit Menschen aus 24 deutschen Städten mit Senioren, Studenten, Schülern, Behinderten, Obdachlosen, Männern, Frauen und vielen Prominenten.

— Wie haben die Menschen reagiert, wenn sie ihre Porträts gesehen haben?

Sander: Einer meiner Sponsoren ist Canon. Mit dieser Firma war ich auf der Drupa (weltgrößte Fachmesse für Printmedien, Anm. d. Red.:) und sie haben riesige Prints der Porträts erstellt. Auf diese gab es keine normale Reaktion. Die Kamera ist so brillant, dass man auf einem Porträt Sachen sieht, die man real nur sehen würde, wenn man sehr nah an den Menschen herangehen würde und dieser nicht in Bewegung wäre. Das Bild aber bewegt sich nicht. Das kann man sich sehr genau ansehen. Manche waren dann schockiert, fanden sich nicht schön genug. Ein Mann fing an zu weinen, als er sein Bild in der Größe sah. Als ich ihn fragte, warum, sagt er: „Ich finde es großartig. Weil ich meine Kraft darin sehe. Ich dachte, ich hätte sie verloren.“

— Inzwischen fotografieren Sie Menschen auf diese eigens entwickelte Weise seit 15 Jahren. Wurde es Ihnen nie langweilig?

Sander: Sie stecken ein Korn in die Erde und irgendwann ist es ein großer Baum. Ich habe dem Ganzen meinen Stempel aufgedrückt, meinen Stil entwickelt. Das ist schon ein gutes Gefühl. Und während anfänglich ich das Projekt entwickelt habe, entwickelt das Projekt heute mich. Wenn man sich etwas so intensiv widmet, dann ist das nicht nur Selbstaufopferung. Man bekommt eine ganze Menge zurück.

— Wie meinen Sie das? Was hat Ihnen das Projekt zurückgegeben?

Sander: Wenn ich früher gehört habe, dass ein Fotograf immer und immer wieder das Gleiche fotografiert, habe ich die Limitierung nicht verstanden. Heute finde ich diese Stringenz toll. Ich bin damit ein Meister meines Faches geworden. Nicht nur in dieser Art von Fotografie. Ich habe eine unglaubliche Wahrhaftigkeit zurückbekommen. Ich bin effizienter darin geworden, die Menschen zu erkennen – auch ihre Schwachstellen. Und die hat jeder. Früher war ich sehr schnell zu begeistern. Jetzt habe ich gelernt, genauer hinzugucken. Ich übersehe weniger Details. Und ich finde schneller die Mitte in der Meinung meines Gegenübers, wenn ich ihn kennenlerne.

— Was möchten Sie dem Betrachter von „HEIMAT.Deutschland – Deine Gesichter“ geben?

Sander: Ein Impuls, überhaupt anzufangen, war die Fußball-WM 2006. Die Stimmung war einzigartig. Leider wurde daraus ein Sommermärchen gemacht. Aber das war kein Märchen! Das war absolut echt. Und das können wir immer wieder machen. Wir sollten uns unterstützen, wo es nur geht. Wir sind Brüder und Schwestern. Miteinander ist besser als Gegeneinander. Das sollten wir nicht vergessen. Wir sollten den demokratischen Gedanken nach vorne tragen. Die Menschen sind nicht gleich und ich kann sie auch nicht gleich machen. Aber ich kann sie gleichstellen. Das habe ich versucht darzustellen, indem der Obdachlose neben Frank-Walter Steinmeier steht. Vielleicht gibt uns jetzt die Fußball-EM (2024) wieder mehr Gemeinschaftssinn.

— Wie kam das Kunstwerk eigentlich ins St. Kamillus Kolumbarium?

Sander: Ich hatte eine Ausstellung in Bonn, in der Katja Mehring-Nußbaum auf mich zukam. Sie war mit ihrem Architekturbüro beauftragt, St. Kamillus zu einem Kolumbarium umzugestalten. Diese Architektin fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, meine Kunst in einer Kirche auszustellen. Erst war ich dagegen. Dann hat sie mich überredet, mir die Kirche anzusehen. Und dann war sofort alles klar. Die Kirche ist fantastisch. Zunächst war es nur eine Leihgabe und als das Kunstwerk unter anderem ins NRW.Forum ging, blieben nur 2.000 Nägel übrig. Das sah fast aus wie ein Uecker. Heute gehört es dem St. Kamillus Kolumbarium.

— Herr Sander, das ist das perfekte Happy End. Vielen Dank für das Gespräch.

Herausgeber:
Callwey, 1. Edition
(18. September 2018)

Gebundene Ausgabe:
448 Seiten

Abmessungen:
32,2 x 6,3 x 37,3 cm

ISBN-10:
9783766723864

ISBN-13:
978-3766723864

Originalpreis:
298,00 €

Fünf Jahre bereiste Carsten Sander die Republik. Er fotografierte einfache Menschen, Obdachlose, Jung und Alt, aber auch Prominente und Politiker, Schauspieler und Fußball-Profis. Das dabei entstandene Kunstwerk „Deutschland. 1.000 Gesichter“ zeigt ein vielfältiges Bild der deutschen Gesellschaft. Der Callwey Verlag hat dazu einen Bildband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren aufgelegt und schreibt dazu: „Die Ausstellung hat über das ganze Land Anerkennung gefunden. Sie zeigt eindrucksvoll Menschen verschiedener Ethnien und Gesellschaftsschichten und bringt ihr Wesen zum Vorschein. Frei von Vorurteilen und Fassaden steht der Mensch als Individuum und zugleich als Teil eines Kollektivs im Vordergrund. Die Essenz des Menschen und sein ambivalenter Charakter werden dadurch herausgearbeitet und dem Betrachter auf besondere Weise vermittelt.“ Jedes Buch ist ein Unikat mit handsigniertem Originalabzug eines der im Buch abgebildeten Porträts. Das Vorwort schrieb Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier.